Volker Heun

I

    n Deutschland hat die
    Inflationsrate im Krisenjahr
    2020 bei ca. 0,5 Prozent gelegen,

in den letzten vier Monaten des Jahres war die Teuerungsrate sogar negativ. Dennoch fragen sich viele Menschen, wo ihr Geld geblieben ist – das Leben wird immer teurer, jedenfalls nehmen es viele Bürger so wahr.

Allerdings ist das kein deutsches Phänomen, denn dieses Empfinden spiegelt sich in Umfragen wider, die zwischen 2004 bis 2020 von der Europäischen Kommission quartalsweise durchgeführt werden: Die wahrgenommene Inflation bei der Bevölkerung fiel durchschnittlich fast fünf Prozentpunkte höher als die offiziell gemessene.

Dieser Unterschied zwischen Gefühl und Statistik ist in der Corona-Krise noch einmal gewachsen. Im ersten Quartal 2020 lag die offizielle Inflation in der Euro-Zone bei 1,11 Prozent. Die gefühlte Teuerung betrug dagegen 4,30 Prozent. Im zweiten Quartal, in das die Pandemie fällt, sank die gemessene Inflation auf 0,22 Prozent, während die gefühlte Inflation auf 5,02 stieg.

Häufig wird argumentiert, dass Menschen Preiserhöhungen bewusster wahrnehmen als Preissenkungen, sodass die Wahrnehmung subjektiv verzerrt sei. Das mag stimmen, aber reicht das, um fast fünf Prozentpunkte Differenz zu erklären? Oder warum klaffen öffentliche Wahrnehmung und amtliche Statistik so weit auseinander?

Dieses Missverhältnis könnte an der Inflationsmessung liegen, sagt der Wirtschaftsprofessor Gunther Schnabl, der dazu an der Universität Leipzig forscht. Mit Blick auf Deutschland stellt er fest: „Die Preise, die in den Läden ausgewiesen werden, finden sich nicht zwingend in den offiziellen Inflationszahlen wieder, da sie von den statistischen Behörden noch verändert werden“, sagt der Wirtschaftsexperte, der von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu Deutschlands Top-100-Ökonomen gezählt wird.

Häufig erfolgt auch eine Qualitätsanpassung. Für viele Güter, bei denen die Qualität besser wird, werden die Preise heruntergerechnet, um den geldwerten Vorteil auszugleichen. Beispielsweise, wenn ein Smartphone eine neue Spracherkennungsfunktion hat, bei Autos ein Navigationsgerät zur Regelausstattung wird oder ein Kühlschrank energieeffizienter ist. Auch der Anstieg von Beiträgen, beispielsweise Krankenkassen und verdeckte Preiserhöhungen werden in der offiziellen Statistik nicht erfasst.

Leider nur ein Beispiel: Seit einigen Monaten bietet der Lebensmittelhersteller Seitenbacher sein Frucht-Müsli in 750-Gramm-Tüten an. Früher hieß das Produkt Vollkorn-Früchte-Müsli und war in 1.000-Gramm-Packungen erhältlich. Der Preis ist allerdings nicht gesenkt geworden. Wie die Verbraucherzentrale Hamburg (VZHH) mitteilt, kostete das alte Produkt in verschiedenen Rewe-Filialen im Sommer 2020 noch 3,79 Euro. Nun wird das Frucht-Müsli meistens für 4,99 Euro angeboten. Edeka verlangt teilweise sogar 5,39 Euro für die kleinere Packung. Das entspricht einer versteckten Preiserhöhung von über 75 Prozent! Deswegen hat die Verbraucherzentrale Hamburg das Produkt im November 2020 zur “Mogelpackung des Monats” gekürt. Dabei ist das Motto „Weniger drin, Preis gleich“ eine beliebte Methode, um versteckte Preiserhöhungen durchzusetzen und Verbraucher auszutricksen leider keine Ausnahme. Die Inflation bekommen diese im Supermarkt oftmals gar nicht mit, weil sich die Verpackungen häufig gar nicht unterscheiden und das vorherige Produkt nicht mehr vorhanden ist und somit vergleichbar ist. Dabei arbeiten Hersteller und Händler hier Hand in Hand: Der Hersteller schrumpft die Füllmenge, der Handel lässt die Preise gleich. Beide profitieren auf Kosten der Verbraucher.

Aber nicht nur beim Blick in den Kühlschrank kommt der Verbraucher ins Grübeln, denn auch in vielen anderen Bereichen des Lebens verschlechtert sich die Qualität, beispielsweise im Dienstleistungssektor. Auch das sollte in die Inflationsberechnungen einfließen, denn im umgekehrten Fall wird das berücksichtigt: Steigt die Qualität, fließt das nämlich durchaus in die Inflationsberechnung ein. Zum Beispiel bei Computern. Sie werden immer leistungsstärker, beim gleichen Preis. Diese Qualitätszunahme berücksichtigen die Statistiker, eine Qualitätsabnahme dagegen nicht.

Und noch etwas stört Schnabl an der offiziellen Inflationsrate: Die Verteuerung von Immobilen werde gar nicht eingepreist. “Man sagt, dass in Deutschland ungefähr 50 Prozent der Menschen in einer eigenen Immobilie wohnen beziehungsweise eine eigene Immobilie besitzen. Und es gibt immer noch viele junge Leute, die gerne für sich oder ihre Familie eine Immobilie hätten. Und damit ist der Preis der Immobilie sehr entscheidend für die Kaufkraft dieser Menschen.” Er resümiert, würde man sinkende Produktqualität und Immobilienpreise bei der Inflation berücksichtigen, läge diese im Euro-Raum bei mehr als zwei Prozent.

Die Europäische Zentralbank hat das Problem offenbar erkannt. Sie prüft, wie sich die offizielle Inflationsrate besser berechnen lässt. Im Gespräch ist u. a., die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum stärker zu berücksichtigen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde kann bei ihrem Bemühen, die Inflation künftig anders zu messen, mit Unterstützung aus Deutschland rechnen. Erstmals hat die Bundesregierung offiziell erklärt, dass sie Lagardes Überprüfung der geldpolitischen Strategie zumindest in einem Punkt unterstützen will: beim Plan, künftig selbst genutztes Wohneigentum in der Inflationsmessung stärker zu berücksichtigen. Für viele Menschen ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung.

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