Prof. Dr. Dr. hc Lothar Abicht

M

    it dem Überfall Russlands
    sein Nachbarland erleben
    wir eine Zeitenwende.

So sagt es der Bundeskanzler und so können wir es in ungezählten Publikationen lesen. Was ist dran an dieser Behauptung, die den Krieg im Osten Europas mit der Zeitenwende 1989 vergleicht.

Beginnen wir mit den Ursachen des Krieges. Löst man sich von aller Propaganda kommt sehr schnell ein zentrales Bild zum Vorschein. Ein militärisch hochgerüstetes Land mit der atomaren Fähigkeit zur Vernichtung der ganzen Menschheit hat seinen Nachbarn überfallen. Nicht etwa spontan, sondern über vier bis fünf Jahre gezielt vorbereitet. Und auch mit klaren Absichten. Im Nachbarland sollte die frei gewählte politische Führung gestürzt werden, um es zum Vasallen zu machen und im günstigsten Fall sogar zu annektieren. Da die vollständige Annexion zumindest vorläufig gescheitert ist, lauten die aktuellen Kriegsziele, bedeutende Teile des Landes dem russischen Imperium zuzuschlagen. Für solche Überfälle gibt es ein fast vergessenes Wort: Es sind imperialistische Raubkriege. Sie galten seit dem Ende des 2. Weltkrieges und erst recht nach dem Zerfall des Eisernen Vorhanges zumindest im Westen als absolut unvorstellbar. Ihr Wiederaufleben zerstört fast alle Sicherheiten über das Zusammenleben der Völker, an die im Westen geglaubt wurde. 

Als Begründung für den Überfall wird – auch in Deutschland – oft die Ausdehnung der Nato nach Osten genannt. Dabei wird bei den Erklärungsversuchen für die Ausdehnung mit westlicher Arroganz schlicht darauf verzichtet, diejenigen im Osten Europas zu fragen, die nach 1990 mit großer Macht in die Nato gedrängt haben. Würde man das endlich nachholen, kämen vielleicht solche Jahreszahlen wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei zur Sprache. Historische Ereignisse, bei denen die sowjetische Führung ihre Macht innerhalb des Warschauer Vertrages ohne Zögern mit militärischen Mitteln gesichert haben. Diese und andere Erlebnisse waren für viele Osteuropäer die Basis um zu ahnen, dass ein widererstarkendes imperialistisches Russland jederzeit in die alte Rolle des Zarenreiches oder der Sowjetunion zurückkehren könnte, militärische Macht zur Sicherung der eigenen Vormachtstellung einzusetzen. Neutralität ist da keine Option, wie die Ukraine aktuell erlebt und seit vielen Jahrzehnten neutrale Länder wie Norwegen und Schweden gerade realisieren.

Die Zeitenwende beschränkt sich aber nicht auf die militärische Auseinandersetzung und auch nicht auf Russland. Wie inzwischen zunehmend deutlich wird, spaltet sich die Welt erneut auf. Staaten mit einer demokratischen Grundordnung, die zumindest in den meisten Fällen eine regelbasierte Ordnung favorisieren, stehen gegen Autokratien, in denen „starke Männer“ die Regeln so interpretieren, wie sie diese gerade brauchen. Nicht selten in Richtung Unterdrückung nach innen und Aggression nach außen. Daneben, so könnte man meinen, suchen wieder die Blockfreien ihren Platz. Ein bedrückendes Szenario mit wenig erfreulichen Aussichten. 

Für die Wirtschaft, namentlich die Globalisierung, ist das Fehlen von Regeln oder deren bewusste Ignorierung genauso Gift wie der Einsatz von Rohstoffen und Energieträgern als Erpressungspotenzial. Die Gefahr einer weltweiten Wirtschaftskrise steht im Raum. 

Werden Lebensmittel, wie gegenwärtig durch die Blockade ukrainischer Getreideausfuhren zu beobachten, als Waffe benutzt, steigen in den reichen Ländern die Preise und die Ärmsten der Armen werden von einer neuen Hungersnot bedroht. Möglicherweise mit der Folge einer aus der Not geborenen neuen Migrationswelle in Richtung Europa oder USA. 

Das alles wird überschattet durch die von Krieg und Aufrüstung aktuell geprägte eigentliche Krise der Menschheit, den Klimawandel. Er hat das Potenzial, schon in einigen Jahrzehnten Teile der Erde unbewohnbar zu machen, die Erzeugung ausreichender Mengen Nahrung für eine wachsende Weltbevölkerung zu verhindern und durch eine Vielzahl lokaler Katastrophen auch in den reichen Ländern das gegenwärtig gewohnte Leben in neue Bahnen zu lenken. Der Zusammenhang zwischen Krieg und Klimawandel ist klar: Kapazitäten für die Rüstung fehlen beim Umbau der Wirtschaft in Richtung einer CO2-freien Produktion. Zerstörte Länder wie die Ukraine neu aufzubauen erfordert nicht nur Geld, sondern auch Baustoffe wie Zement und Stahl. Das sind Produkte, deren Herstellung für bis zu 20 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen zuständig sind.

Aber wo Schatten ist, da ist auch Licht. Die Lösung der Abhängigkeit von russischen fossilen Energierohstoffen beschleunigt den ökologischen Umbau der Wirtschaft in Europa mehr als politische Erklärungen. Menschenrechtsverletzungen gelten nicht mehr als Kavaliersdelikte, über die man im In- und Ausland zugunsten einer florierenden Wirtschaft gern mal hinwegschaut. Die Wirtschaft ist in hohem Tempo dabei, sowohl bei den Lieferanten als auch den Märkten zu diversifizieren. Lieferketten werden durch die gute alte Lagerwirtschaft und die Rückholung von Produktionskapazitäten stabiler und Unternehmen begreifen Resilienz als ein ebenso wichtiges Ziel wie Profitabilität und Innovation. Fast vergessene Länder entwickeln sich zu wichtigen Wirtschaftspartnern und erhalten dadurch bemerkenswerte Entwicklungsschübe. Das alles sind keine Selbstläufer. Aber sie machen Hoffnung, dass die Entwicklung der Menschheit nicht noch stärker in eine Sackgasse läuft.

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